In eigener Sache 1
Philosophisches
...Ich glaube, dass die künstlerische Entscheidungsfähigkeit nicht notwendigerweise an Bezugspunkte geknüpft sein muss, ohne dass man im gleichen Moment einer postmodernen Gleichgültigkeitsästhetik bezichtigt werden braucht. Dazu möchte ich den Kerngedanken der so genannten "Koan" des Zen-Buddhismus anführen. Ein "Koan" ist, vereinfacht formuliert, eine lehrsatzartige Problemstellung, die auf Grund ihrer immanenten Widersprüchlichkeit rational nicht fassbar ist. Nur eine umfassende Auseinandersetzung damit kann schließlich zu einer Transzendierung führen, die jenseits dieses Widerspruchs liegt, aber nur individuell erfahrbar ist und sich jeglicher Verbalisierung entzieht. Vergleichbar damit wäre auch ein künstlerischer Entscheidungsprozess, fern von allen traditionellen dialektischen Prozessen, aber selbstverständlich auch fern von postmodernen Auflösungserscheinungen jeglicher Art.
In meinen Augen lässt sich dadurch eine neue Art von künstlerischer Entscheidungsfreiheit gewinnen, die weder unverantwortlich noch durch eine immanente Befangenheit geprägt wäre. Eine Aussage Mallarmés scheint mir an dieser Stelle besonders treffend:
"Ich habe mein Werk nur durch Eliminierung geschaffen, und jede Wahrheit, die ich erworben habe, ist aus dem Verlust einer Impression hervorgegangen, die sich in ihrem Aufblitzen verzehrt hatte, und mir auf Grund der Dunkelheit, die sie frei werden ließ, erlaubt, tiefer in das Empfinden der absoluten Dunkelheit einzudringen" (Stephane Mallarmé, zitiert nach Maurice Blanchot: Der Gesang der Sirenen, Berlin 1982, Seite 82).
Auch dieses Zitat - aus einer Zeit, die wohl kaum postmodernen Gedankenguts bezichtigt werden kann – impliziert meines Erachtens das Fehlen von so genannten archimedischen Punkten, ohne dabei die Orientierung zu verlieren oder, mit den Worten Harry Lehmanns, einer "totalen Subjektivität" zu verfallen....
(Dieter Mack)
(Ausschnitt aus dem Artikel: Vom Sinn der Toleranz - Einige Gedanken zu Bewusstseinsstrategien im Zusammenhang mit aktuellem Komponieren und Thesen von Harry Lehmann, erschienen in KunstMusik Bd. 6, Hrsg. von Maria de Alvear & Raoul Mörchen, Köln 2006.